Verletzte Kinderseelen – traumatisierte Flüchtlingskinder

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Traumatisierte FlüchtlingskinderMit den aktuellen Flüchtlingswellen sind wir zunehmend mit traumatisierten Kindern aus Krisengebieten wie Afghanistan, Syrien, Somalia oder Eritrea konfrontiert. Die Kinder haben Erfahrungen von Tod, Gewalt, Folter oder Vergewaltigung gemacht sowie enge Angehörige verloren. Diese Erfahrungen können vielfältigste und nicht immer sofort richtig zuzuordnende Auswirkungen auf das soziale Verhalten von Kindern haben.

Laut Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin und dem Internationalen Rehabilitationszentren für Folteropfer sind von allen in die EU-Mitgliedsländer einreisenden Flüchtlingen im Durchschnitt durch Krieg, Bürgerkrieg, Verfolgung, Folter und/oder Flucht ca. 40 % der Flüchtlinge traumatisiert.

Ein Drittel der Flüchtlingskinder aus Syrien sind einer Studie zufolge psychisch belastet. Jedes fünfte Kind leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Erlebnisse von Krieg und Folter in den Heimatländern und die oft monatelange Flucht nach Europa belasten die Kinder in hohem Maße.

Wir sind als Gesellschaft, vor allen Dingen, die als Vormund bestimmten Personen, Pädagogen und Psychologen sowie Psychotherapeuten, gefordert, schon bei der Aufnahme dieser Kinder, das Kindeswohl stärker im Mittelpunkt zu stellen. Dazu gehört vor allen Dingen, den bestmöglichen Zugang zu medizinischer Versorgung zu gewährleisten. Wir benötigen verstärkt engagierte Pädagogen, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychologen, die sich diesen Herausforderungen stellen.

Flüchtlingskinder sind unsicher und verstehen nicht, warum heute vieles nicht mehr so ist wie früher! Es ist wichtig, seelische Verletzungen genauso intensiv, wie körperliche Wunden zu behandeln. Physische Gewalt jeder Art oder der Verlust eines Angehörigen sind für Kinder kaum zu verkraften und wirken meist traumatisierend. Das traumatische Ereignis, die seelische Verwundung führt zu einer Erschütterung des Sicherheitsgefühls, das ist nicht nur belastend für den Betroffenen, es beeinflusst nachhaltig das Umfeld. Es gilt hier, Sicherheit zu vermitteln. Kinder mit traumatischen Fluchterfahrungen benötigen besondere pädagogische und psychologische Unterstützung.

Wir als Betreuende, fragen uns natürlich, was sind die ersten Hinweiszeichen für eine Traumatisierung:

Hinweiszeichen zum Erkennen von Traumata

sind z. B. Schlafstörungen, Albträume, Misstrauen, Geistesabwesenheit, emotionale Instabilität, kaum verstehbare Ängste, ständige Nervosität und Schreckhaftigkeit.

Die körperlichen Symptome können den Schlaf und Appetit des Kindes betreffen. Gerade das vegetative Nervensystem, also die nicht willentlich steuerbaren Organ-Funktionen, sprechen hier ganz besonders auf seelische Beeinträchtigungen an, und zwar in einer Form, die für den Betroffenen neu und verwirrend ist. Bei Kindern äußert sich dies meist in Bauchschmerzen, Appetitmangel, Ein- und Durchschlafstörungen, Kopfschmerzen. Häufig findet sich die posttraumatische Belastungsstörung auch mit Ess-Störungen verbunden und einer Vielzahl von psychosomatische Beschwerden (seelische Beeinträchtigungen), die nicht verarbeitet werden konnten und sich deshalb körperlich äußern, ohne dass der Facharzt eine Organschädigung feststellen kann.

Die Kinder berichten über immer wiederkehrende, lebhafte Bilder des traumatischen Ereignisses – hier auch als Flashbacks bezeichnet – oder einschießende Erinnerungen – Intrusionen -, bei einem Gefühl einer emotionalen Betäubung (numbing). Des Weiteren werden Situationserlebnisse, welche mit dem Trauma zusammenhängen oder erinnern, verdrängt. Die Kinder wollen vergessen, aber schaffen es selbst nicht. Auffälligkeiten im Verhalten dieser Kinder: hohe Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit sowie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Außerdem leiden sie unter gestörte Wahrnehmungen der Umgebung und versuchen sich immer wieder zurückzuziehen in einem „sicheren Raum“, d. h. in diesem Fall Isolation.

Welche Möglichkeiten gibt es für uns, diese traumatisierten Kinder zu unterstützen?

Als wichtigen Punkt sehen wir, den traumatisierten Flüchtlingskindern, als erstes ein Gefühl von Sicherheit zu geben, damit sich das im Notfallprogramm aktivierte Stress-System beruhigen kann, d. h. mit dem Kind kommunizieren: „Was bedeutet für dich Sicherheit“. Sicherheit kann bedeuten, das Kind in Alltagssituation zu begleiten und ihm beizustehen. Ihm Rückzugsmöglichkeiten zu bieten, damit Auslöser, die das Kind ängstigen, vermieden werden.  Es sollten Fragen dieser Kinder geduldig und vor allem immer ehrlich und mit kindgerechten Worten beantwortet werden.

In der Traumapädagogik bzw. –therapie kommt es vor allen Dingen darauf an, beim Kind das Vertrauen in eine grundsätzliche innere und äußere Sicherheit sowie die Bedeutsamkeit, Gestaltbarkeit und Verstehbarkeit des eigenen Lebens wieder herzustellen. Einen besonderen Zugang zu diesen Kindern bekommt man auch ohne Worte, wenn man ohne Worte vorgeht, aktiviert man andere Tätigkeitsfelder in der Gehirnrinde und schafft damit neue geistige und gefühlsbedingte Verarbeitungs-Prozesse. Und ein neues Gleichgewicht gegen die traumatischen Bilder, gleichsam Abwehr auf mehrere Ebenen von Gehirn und damit menschlichem Empfinden. Es bieten sich hier vor  allem gruppen-therapeutische Interventionen mit Gestaltungs-Elementen an, d. h. Malen und Spielen als wesentliche Unterstützungsfunktionen im Rahmen traumatischer Erlebnisse.

Kindergärten und Schulen

nehmen hier einen breiten Raum im Alltag des Kindes ein. Sie sind inhaltlich, formal, prägend und zwar sowohl durch Mitschüler als auch Lehrkräfte. Pädagogen müssen in das Betreuungs-System eingebunden werden. Dazu gehört auch, sie über mögliche dissoziative Phänomene aufzuklären, die den Unterricht oder zumindest die Aufmerksamkeit stören können. Es ist bekannt, dass traumatisierte Kinder träumen offensichtlich „dauernd“ im Unterricht und sind nicht selten „in einer anderen Welt“ zu Hause. Für einen unaufgeklärten Lehrer passt das Kind also ständig nicht auf. Der Lehrer muss wissen, dass auf bestimmte Themen aversive Reaktionen folgen können, wer aber dabei schon einmal Schaden genommen hat und gerade damit kämpft, trotz dieser Traumatisierung wieder seine seelische Stabilität zu erlangen, kann aversiv reagieren, also mit Abneigung, Widerwillen, in diesem Fall vertrotzt erscheinenden Reaktionen, am harmlosesten durch Vermeidung von Thema oder (geforderter) Handlung. Dies bedeutet, dass der pädagogische Alltag mit diesen Kindern so gestaltet werden muss, dass es die gestellten Anforderungen auch leisten kann. Erst wenn es die Erfahrung macht, etwas zu schaffen, kann es darauf aufbauend Neues lernen.

Misserfolge durch Überforderung sollten hier unbedingt vermieden werden. Der Tagesablauf muss hier genau analysiert werden, um solche Situationen zu erkennen und zu vermeiden. Die Bedingungen für traumatisierte Kinder in einer Gruppe sollten für eine bestimmte Zeit angepasst werden, auch wenn vorher andere Regelungen für die Gruppe galten. Insgesamt ist es erforderlich, dass hier offen kommuniziert wird bei Regelveränderungen.

Wie können durch Traumatisierung entstandene Verhaltensweisen verändert werden?

Folgende Möglichkeiten bieten sich an:

Angebote zur körperlichen Wahrnehmung, z. B.

  • Massagen, Psychomotorik, Naturerlebnisse
  • Bewusstes Erleben von Essenssituationen und Körperpflege,
  • Projekte zum eigenen Körper, z. B. Körperschemazeichnungen

Angebote der emotionalen Wahrnehmung,

  • wie Arbeiten mit Smileys,
  • Gefühlsuhren „in welcher Stimmung bin ich heute“.
  • Spiele zur Gefühlswahrnehmung, wie Gefühlskärtchen, Gefühlsmemories, Gefühlstagebuch
  • Psychopharmakologische Ansätze

Wenn über solche Angebote, die Grundlagen für die eigene Wahrnehmungsfähigkeit geschaffen werden, kann man mit Kindern auch auf der Ebene von Selbstregulation arbeiten. Dann können sie lernen, die geforderten Aufgaben umzusetzen und wieder glücklich zu werden.

So schlimm die Konsequenzen traumatischer Erlebnisse oft sind, lassen sich die Störungen mit Mitteln der modernen Psychotherapie gut behandeln. Mit erfahrenen und qualifizierten Spezialisten können heute auch schwere und posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) mit gutem Erfolg behandeln.

Wie stellt sich nun die Diagnose „Traumatisierung“ nach unseren Regelwerken ICD-10 im ärztlichen Alltag dar:

Nach den internationalen Diagnoserichtlinien (ICD) „A-Kriterium“ lautet die Definition, wie folgt:

„Ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzer oder längerer Dauer von außergewöhnlicher Bedrohung oder von katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweifelung hervorrufen würden und die die normalen Anpassungsstrategien eines Menschen überfordern. „

Wir würden hier die ICD-Nr.

  • F62.- Andauernde Persönlichkeitsänderung, nicht Folge einer Schädigung oder Krankheit des Gehirns
  •  F62.0 Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung
  • F62.8 Sonstige andauernde Persönlichkeitsänderungen
  • F62.9 Persönlichkeitsänderung nicht näher bezeichnet

zur Kodierung verwenden.

Damit die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung auch kodiert werden kann, sollten folgende Merkmale und Kriterien in der Dokumentation festgehalten werden:

Traumatisches Erlebnis

Es wurde ein traumatisches Ereignis erlebt oder beobachtet. Dieses Ereignis ging mit Gefahr, Verletzung oder sogar dem drohenden Tod der eigenen oder einer anderen Person einher. Auch die reale oder angenommene Bedrohung der psychischen Gesundheit kann zum Trauma werden.

Wiedererleben:

Das traumatische Erlebnis wird ungewollt wiedererlebt oder wiedererinnert.

Vermeidung und/oder emotionale Taubheit:

Situationen und Merkmale, die mit dem Trauma in irgendeiner Art und Weise verbunden sind, werden vermieden. Und/oder Emotionen können nicht mehr wie gewohnt empfunden werden. Eine Art emotionale Taubheit wird erlebt.

Erhöhte Erregung/Reizbarkeit:

Der Betroffene ist unruhiger, leichter erregbar oder reizbarer als vor dem traumatischen Erlebnis.

Beginn und Dauer der Symptome:

Die Symptome dauern länger als einen Monat nach dem Ereignis an. Bis zu drei Monate nach dem Erlebnis spricht man von einer akuten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), darüber hinaus ist eine chronische PTBS zu diagnostizieren. In besonderen Einzelfällen kann es zu einem verspäteten Beginn kommen. Das Ereignis liegt dann 6 Monate oder länger zurück.

Es könnten in Ihrer Arbeit auch immer wieder Barrieren auftreten – lassen SIE sich nicht entmutigen!

Die professionelle Hilfe für traumatisierte Flüchtlingskinder stößt bei uns allerdings noch auf Barrieren im Hinblick auf muttersprachliche, kulturelle, insbesondere auch rechtliche Aspekte. Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht so im Vergleich zum SGB XII zum Teil nur eingeschränkte Gesundheitsleistungen bei laufendem Asylverfahren vor. Hier kann es unter Umständen zu langwierigen Verfahren kommen, um eine Psychotherapie (ggf. nebst Dolmetscherkosten) vom Sozialamt bewilligt zu bekommen.

Wir möchten hier nicht versäumen, auf unterstützende Einrichtungen hinzuweisen:

Neben Erziehungsberatungsstellen und Psychotherapeutischen Vereinigungen vor Ort, bieten „Netzwerke für traumatisierte Flüchtlinge“ eine zentrale telefonische Beratung und Unterstützung, um Flüchtlingen eine geeignete psychotherapeutische und/oder psychiatrische Behandlung zu vermitteln. Dazu eingerichtete Netzwerke kümmern sich ggf. um eine diagnostische Abklärung und bieten auch überbrückend Kriseninterventionsgespräche an. Viele grundsätzliche Informationen zum Thema „Flüchtlinge“ und „Asyl“ sind zu finden: Homepage der Landesflüchtlingsräte sowie Caritas Flüchtlingshilfen.

PACKEN WIR ES AN – Kinder sind unsere Zukunft!

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Literatur:

Qirjako, Eni (2007): Traumatisierte Kinder und Jugendliche: Einfluss Posttraumatischer Belastungsstörung auf psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Dissertation, LMU München: Fakultät für Psychologie und Pädagogik

Faust, V.: Psychosoziale Gesundheit, Trauma und seine Folgen

WIKIPEDIA – https://de.wikipedia.org/wiki/Posttraumatische_Belastungsstörung

BZFO – Behandlungszentrum für Folteropfer  Berlin -http://www.bzfo.de/

IRCT – Internat. Rehabilitationszentren für Folteropfer

W. Wirtgen. Ehem. Menschenrechtsbeauftragte der LÄK Bayer (2009), Deutsches Ärzteblatt jg. 106, Heft 49.

One Response to Verletzte Kinderseelen – traumatisierte Flüchtlingskinder

  1. Ziegler, Hartmut

    Sehr interesssanter Artikel, verständlich geschrieben und vor allen Dingen sehr nah an der Problematik. Nach wie vor eine zeitnahe Behandlung der Kinder notwendig. Psychotherapeuten sind hier sehr, sehr wichtig in den ersten Jahren.

     

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